Jüdische Perspektiven auf Antisemitismus in Deutschland 2017 – 2020
Bundesverband RIAS
2021

Am 9. Oktober 2019 ermordete ein rechtsextremer Attentäter zwei Menschen bei einem Anschlag auf eine Synagoge in Halle. Zahlreiche Jüdinnen_Juden befanden sich zum Tatzeitpunkt in der Synagoge, um dort Jom Kippur, den höchsten jüdischen Feiertag, zu feiern. Sie überlebten den Anschlag nur, weil es dem Täter nicht gelang in das Gebäude einzudringen. Trotz der einhelligen Erschütterung über den Terroranschlag wurden im Nachhinein doch grundsätzlich unterschiedliche Wahrnehmungen des Problems Antisemitismus in Deutschland sichtbar: Politiker_innen bezeichneten die Tat in den folgenden Tagen als „Alarmzeichen“ sowie als „unvorstellbar“. Für viele Jüdinnen_Juden war solch ein Anschlag jedoch keineswegs unvorstellbar, sondern sehr wohl ein denkbares und gefürchtetes Szenario. Der Anschlag mit zwei Toten war auch kein „Alarmsignal“, sondern bereits der Ernstfall. Zudem erinnerte er an vergangene antisemitische Gewalttaten. Diese unterschiedlichen Bewertungen verweisen auf eine Diskrepanz in der Wahrnehmung von Antisemitismus durch Jüdinnen_Juden auf der einen Seite und die nicht-jüdische Mehrheitsgesellschaft auf der anderen Seite. Um diese sichtbarer zu machen, hat der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus e. V. seit 2017 in verschiedenen Bundesländern Befragungen jüdischer Akteur_innen durchgeführt und diese unter anderem nach ihrer Wahrnehmung von Antisemitismus gefragt.