Das klingt nach völkischer Schicksalsgemeinschaft
Wir haben mit Patrice Poutrus über die politischen und ästhetischen Thematisierung ostdeutscher Identität und das Aufleben eines (ost-)deutschen Opfermythos gesprochen. Dafür trafen wir uns in Henrike Naumanns Ausstellung „Ostalgie“, die im Frühjahr 2019 in der Berliner Galerie KOW zu sehen war.
Patrice Poutrus, Jahrgang 1961, ist ein in der DDR aufgewachsener Zeithistoriker und Migrationsforscher mit zahlreiche Veröffentlichungen zur DDR-Geschichte und zur Migrationsgeschichte. Nach einem Studium der Geschichts- und Sozialwissenschaften an der HU Berlin und der Promotion in Frankfurt Oder über den Zusammenhang zwischen Herrschaftssicherung und Konsumentwicklung in der DDR, war er mit verschiedenen Lehr- und Forschungsaufträgen in Hamburg, Berlin und Halle-Wittenberg. Zudem war er Fellow am Simon Wiesenthal Institut für Holocaust Studien in Wien. Zur Zeit lehrt Poutrus an der Uni Erfurt.
Gegenwärtig ist es sehr populär in politischen und kulturellen Debatten, Erfahrungen von „den Ostdeutschen“ zu thematisieren. Eine Gemeinsamkeit dieser neuen Perspektiven auf Ostdeutsche scheint die Verknüpfung der „Wende“ mit Unterdrückungs- und Diskriminierungserfahrungen zu sein. Konstituiert sich dadurch auch eine problematische ostdeutsche Identität?
Zunächst vielleicht ein Beispiel: In den Berliner Reinbeckhallen werden unter dem Titel „Die Ostdeutschen“ Fotografien von Roger Melis gezeigt. Mich irritiert dieser Titel fürchterlich, denn bis auf ein paar Bilder der Einheitsfeier am Ende der Ausstellung werden da meines Erachtens keine Fotos von „Ostdeutschen“ gezeigt. Die DDR-Bürger – und das wäre mein Argument – waren vor der „Wende“ keine „Ostdeutschen“ bzw. verstanden sich nicht als solche. Diese Identifizierung entstand erst im Kontrast – sowohl zu „den Westdeutschen“; aber genauso zu den eigenen Westdeutschlanderfahrungen nach dem Mauerfall von 1989. Erst in Auseinandersetzung mit einer sich verändernden und auch erweiternden Umwelt entstand überhaupt so etwas wie eine ostdeutsche Identität. Wenn man also auch von „den Ostdeutschen“ spricht und damit die ehemaligen DDR-Bürger meint, dann ist das zumindest historisch undifferenziert. Eine konkrete Erfahrung wird künstlich in die Vergangenheit verlängert. Doch hier fangen für mich die Probleme mit „der ostdeutschen Identität“ erst an. Wie absurd diese Konstruktion werden kann, wird klar, wenn man sich beispielsweise die Forderung nach einer Ostdeutschen-Quote anschaut. Die mehr oder minder identitätsstiftenden Erfahrungen, die jemand in der „Wende“ und vor allem danach gemacht hat, werden dabei zu einem wilden Essenzialismus verkehrt. Wenn man eine solche Quote operationalisieren wollte, dann entstehen dabei fast zwangsläufig Fragen nach Abstammung und Herkunft, die sich trotz jeder noch so vermeintlich guten Intention verselbstständigen.
Wie ist es aber jenseits des Essenzialismus um diese Erfahrungen bestellt? Was halten Sie z.B. von Naika Foroutans Idee, die Erfahrungen von Ostdeutschen und Migrant*innen zu vergleichen?
Am Migrationsargument von Foroutan ist schon was dran, aber nicht im Sinne einer diskriminierten Minderheit, sondern insofern, als die Leute aus Ostdeutschland mehrheitlich aus ihren Verhältnissen ausgewandert sind. Das kann durchaus ähnliche Gefühle wecken wie bei Leuten, die in Folge ihrer Migration Diskriminierung ausgesetzt sind. Und natürlich lassen sich solche Erfahrungen auch zu einer gezielten ostdeutschen Identität kultivieren.
Bei einer oberflächlichen Parallelisierung dieser Erfahrungen mit jenen von Migrant*innen besteht aber die Gefahr, das Spezifische der jeweiligen Erfahrungen zugunsten einer großen Opfererzählung zu verdecken.
Bei einer oberflächlichen Parallelisierung dieser Erfahrungen mit jenen von Migrant*innen besteht aber die Gefahr, das Spezifische der jeweiligen Erfahrungen zugunsten einer großen Opfererzählung zu verdecken. Als Migrant*innen Opfer von Rassismus oder Ausländerfeindlichkeit zu werden ist schließlich eine andere Erfahrung als die eines politischen und sozialen Umbruchs, der gern auch friedliche Revolution genannt wird. Besonders absurd wird diese Parallelisierung für mich dann, wenn aus einer vermeintlichen allgemeinen Diskriminierungserfahrung „der Ostdeutschen“ rassistische Übergriffe von „Ostdeutschen“ auf Migrant*innen erklärt werden sollen.
Diese Erklärung rassistischer Gewalt, durch vermeintliche eigene Diskriminierungserfahrungen, ist gegenwärtig stark im Kommen. Jana Hensel denkt in ihrer Zeit-Kolumne darüber nach, dass sich die Pogrome in Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda aus der Erniedrigung der Ostdeutschen erklären lassen könnten.
Das Problem ist für mich an diesem Punkt, dass so die rassistischen Motive der Täter*innen völlig aus dem Blick geraten.
Das Problem ist für mich an diesem Punkt, dass so die rassistischen Motive der Täter*innen völlig aus dem Blick geraten. Dabei wird so getan, als sei der demonstrierte Rassismus eine Art Reflex auf Konflikte, die durch die „Wende“ und die deutsche Einheit entstanden seien. So enthebt man die Täter*innen aus jeglicher individueller Verantwortung für ihre Handlungen. In diesem Zusammenhang verwundert es im Übrigen nicht, dass Untersuchungsergebnisse über rassistische Gewalttaten und entsprechende Vorurteilsstrukturen in der DDR von vielen Ostdeutschen brüsk abgelehnt bzw. als unwahr zurückgewiesen werden, da diese den angenommenen Opferstatus letztlich in Frage stellen. Diese Untersuchungen zeigen, dass die einfachen DDR-Bürger*innen lange vor 1989 rassistische Täter*innen sein konnten. Wie 1975 in Erfurt konnte es zu pogromartigen Ausschreitungen unter der Aufsicht des SED-Staates kommen.
Auf einer Veranstaltung mit dem Titel „Im Osten geht die Sonne auf“ – organisiert und moderiert von Kathrin Göring-Eckert – hat Jana Hensel den Rassismus in der DDR als eine Systemkritik bezeichnet und vom westdeutschen Rassismus unterschieden, bei dem es sich um sogenannten klassischen Rassismus handle. Was sagen Sie dazu?
Diese Unterscheidung ist völliger Unsinn. Natürlich war das Rassismus und er war vor allem systemimmanent! In dieser Unterscheidung wird allerdings deutlich, dass sich auch noch eine andere Erzählung aus DDR-Zeiten in den vermeintlichen Erklärungen des ostdeutschen Rassismus fortsetzt. Z.B. erklärte die DDR-Histographie häufig selbst auf diese Weise den Antisemitismus der Arbeiter*innen in der Weimarer Republik. Beispielsweise findet sich im Bezug auf das Pogrom von 1923 im Scheunenviertel in der DDR Geschichtsschreibung oft die Behauptung, das wäre ein sozialer Protest gewesen – also quasi Systemkritik. Das ist natürlich Irrsinn: Warum hat man ausgerechnet die heimat- und staatenlosen Emigrant*innen aus Osteuropa angegriffen und nicht – ja immerhin gleich um die Ecke – die Berliner Börse gestürmt? Es ist ganz klar, dass hier gar nichts erklärt werden soll.
Hier schreibt sich ein Opfermythos fort, der spätestens mit der Generalexkulpation der deutschen Arbeiter*innen durch den DDR-Antifaschismus einsetzt. Dann war man auf einmal nur noch Opfer irgendwelcher externer Einflüsse und Verhältnisse. Das führt zwangsläufig zu einer Entdifferenzierung.
Die Täter sollen lediglich selbst in die Position eines Opfers versetzt werden, sodass ihnen kein Vorwurf mehr gemacht werden kann. Das darin angelegte Verständnis für die Täter schreibt sich bis heute fort. In Lichtenhagen wurden Vertragsarbeiter angegriffen, die noch viel schlechter dran waren als die Ostdeutschen. Hier schreibt sich ein Opfermythos fort, der spätestens mit der Generalexkulpation der deutschen Arbeiter*innen durch den DDR-Antifaschismus einsetzt. Dann war man auf einmal nur noch Opfer irgendwelcher externer Einflüsse und Verhältnisse, Opfer der Nazis, Opfer der SED und später Opfer der „Wende". Das führt zwangsläufig zu einer Entdifferenzierung. Man kann dann nicht mehr sagen, wann es tatsächlich zu einer Täterschaft kommt und das ist eine große Gefahr.
Wie schätzen Sie die Forderung nach einer postkolonialen Perspektive auf die „Wende“ ein?
Das eigene Profitieren von postkolonialen Strukturen wird schlicht verschwiegen und ins Gegenteil verkehrt.
Die Verkürzung dieser Perspektive auf einen vermeintlichen westdeutschen Kolonialismus in Ostdeutschland schlägt meiner Meinung nach in dieselbe Kerbe. Dabei wird der Begriff Kolonialismus völlig dekontextualisiert. Es wird behauptet, „die Ostdeutschen“ wären quasi von den westdeutschen Kolonisatoren unterworfen worden. Solche Behauptungen ließen sich in den meisten Fällen widerlegen, doch um einen systematischen Vergleich geht es dabei gar nicht. Es wird ausgelassen, dass die deutsche Einheit ganz wesentlich von ostdeutscher Seite herbeigeführt und forciert wurde. Vor allem werden die tatsächlichen Härten der dann folgenden Transformation gleichgesetzt mit Unterdrückungspraktiken, wie beispielsweise Sklaverei und Völkermorde, was schlicht grotesk ist. Aber es wird der aus diesen Menschheitsverbrechen abgeleitete pathetische Vorwurf eins zu eins übernommen, um eigene Geltungsansprüche zu legitimieren. Das eigene Profitieren von postkolonialen Strukturen wird schlicht verschwiegen und ins Gegenteil verkehrt.
Eine Akteurin, der immer wieder mit der westdeutschen Kolonialisierung Ostdeutschlands in Verbindung gebracht wird, ist die Treuhand. Auch hier in der Ausstellung ist die Treuhand durch ein Portrait von Birgit Breuel präsent. Sie war Treuhandchefin von 1990-1995. Warum nun die Treuhand?
Die Treuhand wird als Chiffre benutzt, die Überwältigungserfahrung in die Halluzination einer hinter allem stehenden Macht ersetzt. Von hier ist es dann nicht mehr weit zur Verschwörungstheorie, zu einer Art Dolchstosslegende der 90er. Nach wie vor wird so getan, als bestünden Versuche dunkle Machenschaften und geheime Deals zu verschleiern. Noch Ende letzten Jahres behauptete etwa Kerstin Decker im Tagesspiegel, die Treuhandakten seien unter Verschluss. Das ist schlicht und ergreifend falsch und jeder der sich dafür interessiert kann einfach nachvollziehen, dass die Akten seit mehreren Jahren ins Bundesarchiv überführt werden und dass es am IfZ ein Forschungsprojekt dazu gibt. Falsch ist auch die Annahme, dass es hier etwas zu verschleiern gäbe, denn es ist ja gut dokumentiert. Wenn die Treuhand zur Hauptakteurin einer westlichen Übername des Ostens erklärt wird, dient das dem Zweck die Härte des Transformationsprozesses allein auf vermeintlich externe Einflüsse zurückzuführen und eigene Verantwortungen zu verleugnen. Die Treuhand wird z.B. für Massenentlassungen verantwortlich gemacht.
Wenn die Treuhand zur Hauptakteurin einer westlichen Übername des Ostens erklärt wird, dient das dem Zweck die Härte des Transformationsprozesses allein auf vermeintlich externe Einflüsse zurückzuführen und eigene Verantwortungen zu verleugnen.
Der Hauptteil der Entlassungen erfolgte aber schon viel früher. Dafür verantwortlich war, dass nach Einführung der D-Mark die Märkte wegbrachen. Unter dem Slogan „Kommt die DM bleiben wir, kommt sie nicht dann kommen wir“ ging man aber schon 1989/90 in der DDR auf Stimmenfang. Dahinter versammelten sich große Teile der Bevölkerung. Damit machten die gleichen Leute Politik, die sich später mit dem Verweis auf die Treuhand aus der Affäre zogen. Das waren sowohl aus dem Westen herbeigerufene Führungskräfte, als auch Entscheidungsträger aus dem Osten. Auch die Treuhand selbst ist eine Lösung die unter Beteiligung von ostdeutschen Politiker*innen am Runden Tisch beschlossen wurde. Aber noch bevor die Treuhand überhaupt Zugriff hatte, sind in fast allen Betrieben massive Kürzungen vorgenommen worden. Die ersten die rausgeflogen waren die Vertragsarbeiter. Dann wurden die Sozialinstitutionen abgeschafft. Als die Treuhand dann ihre Tätigkeit aufnahm, waren die meisten Betriebe auf ein Minimum heruntergefahren. Natürlich hat es dann auch mal die angeprangerten Deals gegeben, bei denen an Westkonkurrenten verkauft wurde und manches, ist verscherbelt worden. Die meisten Verkäufe liefen aber einfach unter normalen Marktbedingungen ab. Die Ost-Unternehmen waren fast alle massiv unterfinanziert und da verwunderte es nicht, wenn die der Konkurrenz auf dem Markt nicht standhielten. Jedem, der dafür dann die Machenschaften der Treuhand für verantwortlich macht, muss man entgegen: „Dafür habt Ihr Euch selbst entscheiden. Ihr habt euch für den Kapitalismus entschieden.“ In ähnlicher Weise wird auch immer wieder behauptet es hätte einen oktroyierten Elitenwechsel gegeben. Es gab auch einen großen Wechsel in Führungspositionen. Die Forderung danach kam aber ganz eindeutig aus der ostdeutschen Bevölkerung, die einen Bruch mit den SED-Funktionären und dem alten System wollte. Ob nun an Universitäten, in öffentlichen Verwaltung oder in Redaktionen von Zeitschriften, man wollte keine DDR mehr.
In einem Ausstellungstext zu Henrike Naumanns Arbeit „Triangular Stories“, die in Leipzig zusehen war, schreiben die Ausstellungsmacher*innen man hätte sich damals entscheiden müssen, zwischen ‚Hedonismus‘ und ‚Faschismus‘. Wie verhält sich diese Darstellung der „Wende“ zu den von Dir geschilderten Prozessen?
Die Behauptung man habe damals nur zischen Faschismus oder hedonistischem Kapitalismus entscheiden können ist viel zu vereinfachend. Die Bundesrepublik war damals ein extrem attraktives Angebot – gerade im Vergleich mit der sehr reformbedürftigen DDR. Das ging ja nicht nur DDR-Bürger*innen so. Man muss sich auch fragen, was in dieser vereinfachenden Darstellung eigentlich genau mit Hedonismus gemeint ist? Eine solche Gegenwartsdiagnose kommt aus der Tradition der Kulturkritik: Die eigene Gegenwart wird als überwältigend wahrgenommen, alles wird schneller, gerät aus den Fugen. Dafür findet man eine Menge von historischen Beispielen. Die Annahme, dass die Verhältnisse einen überwältigen, hat auch immer in der Kunst und Literatur eine grosse Rolle gespielt. Mich erinnert diese gegenwärtig Entwicklung an das Verhalten mit dem Deutsche Künstler den ersten Weltkrieg begrüßten. Bei allen historischen Unterschieden, die letztlich nicht zu unterschätzen sind, gab es damals wie heute eine pessimistische Gegenwartsdiagnose, in der ein externes Prinzip eine halluzinierte Einheit zerstört. Schnell ist man dann bei Entgegensetzungen wie der von Zivilisation und Kultur und begrüßt Bewegungen die sich auf ein vermeintlich ursprüngliches Wesen besinnen. Das schwingt beispielsweise in der Rede vom „Osterwachen“ mit.
Ist also ein positiver Bezug auf eine ostdeutsche Identität überhaupt möglich?
Das klingt für mich nach völkischer Schicksalsgemeinschaft – „Ostdeutsch-sein“ als unentrinnbare Bestimmung.
Ja, für mich ist das schon möglich. Das Problem ist aber die Vereinheitlichung und Verabsolutierung dieser Identität. Wenn so getan wird, als wäre man ausschließlich „Ostdeutsche*r“ und könne dadurch bestimmte Handlungen erklären. Dann betrachtet man Menschen nicht mehr als Individuen und auch nicht mehr als handlungsfähig bzw. Verantwortung tragend. Ich bin doch nicht nur Ostdeutscher, ich bin auch ein mittelalter Akademiker, ich habe durch meine Väter einen Migrationshintern (sic), ich bin Sohn, Liebhaber, Vater und Großvater, ich bin Alba- und Union-Fan usw. Das sind alles Beschreibungen meiner Person, die aber für sich allein noch gar nichts erklären und auf die ich keineswegs zu reduzieren bin. Natürlich gibt es etwas, das Ostdeutsche mal mehr und mal weniger teilen. Gerade in der Distinktionserfahrung nach der „Wende“ liegt auch etwas, das zu einer verbindenden ostdeutschen Identität kultiviert werden konnte. Zum Problem aber wird, wenn diese geteilten Erfahrungen zu etwas Unhintergehbarem, zu etwas meine ganze Person Bestimmenden erhoben werden sollen. Das klingt für mich nach völkischer Schicksalsgemeinschaft – „Ostdeutsch-sein“ als unentrinnbare Bestimmung. Auch wenn Leute wie Jana Hensel mit der Betonung einer ostdeutschen Identität gute Absichten verbinden mögen, kommen sie in dieses essenzialistische Fahrwasser, wenn sie mit dieser Identität eine Kampfposition und Ansprüche verknüpfen. Die gemeinsame Identität soll dann eine Bewegung formieren, die diesen Ansprüchen den entsprechenden Nachdruck verleiht. Und diese Ansprüche sind eben nicht allein aus Deklassierungserfahrungen nach der „Wende“ zu erklären. Ganz entscheidend schwingt darin ein Entlastungsbedürfnis mit.
Was für eine Entlastung findet hier statt?
Ich würde verschiedene Momente der Entlastung sehen. Einmal ermöglicht die Identifizierung mit der angebotenen ostdeutschen Identität, der eigenen Verantwortung in einer vergangenen wie der gegenwärtigen Situation zu entfliehen, die an allen Ecken und Enden als überfordernd wahrgenommen wurde und wohl auch noch wird. Zudem reduziert die mit dieser Identität verknüpfte Erzählung die Komplexität der Situation auf einfache Schemata, in denen man sich gern als Opfer verortet. So trifft einen dann auch keine „Schuld“ für den weiteren Verlauf des Transformationsprozesses nach der „Wende“ und insbesondere für den virulenten Rassismus im heutigen Ostdeutschland. Fast schon könnte man sagen, dass Ostdeutsche so guten Gewissens Rassist sein dürfen, weil die „Wende“ und der „Westen“ habe einen ja dazu gemacht. So wird dann auch der NSU nicht wirklich erklärt, aber sehr wohl gerechtfertigt. Auch erinnert mich diese Form eines ostdeutschen Sonderbewusstseins fatal an Erzählungen aus den Südstaaten der USA. Dort diente und dient die angebliche Aggression des Nordens und die tatsächlich gewaltsam herbeigeführte Zerstörung der alten Sklavenhaltergesellschaft bis in die unmittelbare Gegenwart bei weiten Teilen der Gesellschaft zur Rechtfertigung von Gewalt und Rassismus. An diese Form der Identität konnte Donald Trump sehr erfolgreich appellieren, und dies erklärt nach meiner Auffassung auch den Erfolg der AfD in Ostdeutschland.
Das Interview wurde zuerst in einer kürzeren Version in der taz veröffentlicht.