Sorge, was noch bevorsteht
Ein offener Brief fordert, Israel von der Kunstbiennale in Venedig auszuschließen. Tausende haben ihn unterschrieben, die Liste ähnlicher Boykottaufrufe ist lang. Über einen Diskurs, den man nicht ohne Widerspruch laufen lassen kann
Der Text von Fabian Bechtle erschien zuerst in der Wochenzeitung DER FREITAG 10/2024
Eine Initiative mit dem Namen „Art Not Genocide Alliance“ hat einen offenen Brief geschrieben, der den Ausschluss Israels von der Venedig-Biennale fordert. Über 20.0000 Personen aus dem Kunstfeld haben den Aufruf unterschrieben. Die Initiator*innen bleiben bisher anonym. „Dieser Brief wurde von allen verfasst, die ihn unterzeichnen“, heißt es dazu in der Selbstbeschreibung der Initiative. Der offene Brief offenbart viel über den Erfolg eines regressiven Populismus im Kunstfeld, der Israel als Aggressor ausmacht. Das einzig Gute an ihm ist, dass man ihm keine Gleichgültigkeit für die Opfer in Gaza unterstellen kann.
Der Brief gehört zu einer langen Reihe diverser kollektiver Bestrebungen aus der Kunst, Kunstinstitutionen eine politische Agenda aufzuzwingen, in der Israel die Rolle eines kolonialen Apartheidregimes und nicht zuletzt genozidale Verbrechen zugeschrieben werden. Der benannte Brief bemüht diese Dämonisierung. Der Auslöser der aktuellen Eskalation, nämlich der Überfall der Hamas vom 7. Oktober, wird nicht erwähnt. Das selbstbehauptete humanitäre Ansinnen der Unterzeichner*innen verkehrt sich dadurch in sein Gegenteil. Weite Teile des Kunstfelds haben sich in diesem Doppelstandard eingerichtet. Ihm liegt ein manichäisches Weltbild zugrunde, welches bereits durch die Debatte um die documenta fifteen illustriert wurde.
Kurz nach dem Terrorangriff, dessen Zweck einzig und allein darin bestand, so viele Menschen wie möglich zu ermorden, wurde auch und gerade im Kunstfeld der Hamas-Terror als Befreiungskampf umgedeutet und ein noch kommender Genozid an den Palästinenser*innen heraufbeschworen. Dabei ist es ein fundamentales Kalkül der Hamas-Ökonomie, Opfer eines jeglichen Gegenschlags für ihre Ideologie zu instrumentalisieren. Jede militärische Reaktion Israels verdeutlicht diese Zwickmühle.
Im Wesentlichen wirken zwei Projektionen auf Israel, die dieses Dilemma verstärken. Zum einen ist der israelbezogene Antisemitismus besonders wirkmächtig und gehört zur täglichen Erfahrung von Jüdinnen und Juden. Immer wieder werden sie mit Doppelstandards in der Bewertung von Israels Vorgehen nach dem 7. Oktober konfrontiert. Zum anderen gibt es auch – wenn man so will – eine positive Projektion. In dieser werden Israel kaum einzuhaltende moralische Standards auferlegt, die nichts mit der Realität eines Krieges zu tun haben. Israel soll nahezu allumfassend gut handeln. Schon die Möglichkeit, diesem Standard nicht zu entsprechen, bedeutet für Israel, massiver Kritik ausgesetzt zu sein. Léon Poliakovs Formulierung, Israel sei der „Jude unter den Staaten“, ist aktueller denn je.
Der unmenschliche Druck des Hamas-Regimes
Beide Projektionen durchziehen das internationale Kunstfeld und verbauen die Fähigkeit zu einer konstruktiven Debatte. Flankiert wird diese Gewalt der letzten Monate durch Briefe und Wortmeldungen von Künstler*innen, die eine Unsichtbarmachung des 7. Oktobers betreiben. Dabei ist die Intention, auf das Leiden der palästinensischen Zivilbevölkerung hinzuweisen, keine hinreichende Erklärung für diese einseitige Parteinahme. Würde die Rolle der Hamas in diesen Erklärungen einen Platz finden, müsste nicht nur über die Opfer des 7. Oktober gesprochen werden, sondern auch über den unmenschlichen Druck, der auf den Menschen im Gazastreifen durch das Terror-Regime der Hamas lastet.
Der öffentliche Diskurs im Kunstfeld ist mit der Klarheit von Aktivist*innen konfrontiert, die sich mehr für einen Metakonflikt der Weltanschauungen interessieren und postkoloniale Denkangebote für ihre Ideologie missbrauchen. Das vermeintlich Indigene wird dem (weißen) Westen entgegengestellt und ein dekolonialer Kampf ohne Beachtung der Ursache des eigentlichen Konflikts auf Palästina übertragen.
In Deutschland zeichnet sich diesbezüglich eine lange Kontinuität ab – begonnen bei der antizionistischen Agenda der DDR, aber auch in einer regressiv-antiimperialistischen Querfront, die bis heute wirkt. Antisemitismus versteht sich von jeher als gerechte Sache und Widerstand gegen eine vermeintliche jüdische Kulturhegemonie. Die Hamas hat verstanden, dass ihre Verbrechen diese Vorstellung sogar noch befördern.
Die Statements der Macherinnen des israelischen Pavillons
Das antiisraelische Ressentiment, seine Schnittmengen zum Antisemitismus und die Funktion des Antisemitismus für die Gesellschaft selbst müssen Teil des vielfach geforderten Dialogs im Kunstfeld sein. Auf Grundlage von Boykottaufrufen ist dieser nicht möglich. Regressive Ideologien oder die schematische Aufteilung der Welt in Gut und Böse öffnen diesen Diskurs nicht. Widersprüchlichkeiten anzuerkennen, um sich dadurch der Komplexität der Welt zu nähern, ist ein komplizierter Weg ohne Alternative. Die populistischen Forderungen von Tausenden Künstler*innen, die leichtfertig den Angriffskrieg Russlands oder das südafrikanische Apartheidregime mit Israel gleichstellen, wie im Brief an die Venedig-Biennale, können nicht Teil der Lösung sein.
Es gibt keinen Anspruch auf das widerspruchslose Laufenlassen eines entgrenzten Diskurses. Die Debatte muss vor dem Hintergrund der Realität stattfinden und nicht vor dem Hintergrund von Projektionen.
Dafür stehen die Statements der Macherinnen des israelischen Pavillons. Die Künstlerin Ruth Patir sowie die Kuratorinnen Mira Lapidot und Tamar Margalit werden auf ARTnews zitiert. „Die schrecklichen Angriffe der Hamas vom 7. Oktober, die das Leben so vieler unserer Verwandten, Freunde und Bekannten brutal zerstört haben, haben uns fassungslos und erschreckt. (…) Unsere große Trauer wird durch die tiefe Sorge über die eskalierende humanitäre Krise in Gaza verstärkt und erstreckt sich auf den tragischen Verlust von Menschenleben dort und darüber, was noch bevorsteht.“