Welt ohne Juden
Wenn ich ein Weltbild habe, das sich nur mit antisemitischen Stereotypen beschreiben lässt, ist mein Weltbild vermutlich antisemitisch. Antisemit will aber keiner sein.
Der Anarchist Wilhelm Marr fühlte sich bestimmt sehr progressiv und widerständig, als er 1879 antijüdische Ressentiments zu einer antisemitischen Ideologie zusammenfasste, die dem Zeitgeist des ausgehenden 19. Jahrhunderts entsprach. Hätte man ihm gesagt, dass in der Konsequenz seines von allzu vielen geteilten Weltbildes sechs Millionen Juden industriell ermordet werden würden, er hätte das vermutlich mit aller Vehemenz abgestritten.
Wer einen Juden mit SS-Runen neben einem schweinsgesichtigen Cyborg-Soldaten vom Mossad malt, hat denselben Blick auf die Juden und ihren Staat wie völkisch-essentialistische Nationalsozialisten. You can’t have your cake and eat it too.
Nun gehört es zur Kernkompetenz des Antisemitismus, Widersprüche auszubügeln, oder zur Not einfach wegzuknüppeln. Die Nazis hatten für ihre Jahrhunderte lang von Juden ausgesaugte Welt auch eine paradiesisch unbeschwerte und konfliktfreie Maibaumtanz-Utopie parat. In dieser Welt voller Traditionen, Folklore und ungebrochenen Identitäten hätte es nie wieder Kriege und Konflikte geben müssen, weil es die Urheber und Profiteure von Konflikten auch nicht mehr gegeben hätte.
Das mit der Endlösung hat doch nicht ganz geklappt. Die Nazis wurden besiegt. Es gibt keine Antisemiten mehr, außer jenen, die sich bis heute als Nationalsozialisten identifizieren. Das war’s. Oder war es das? Nein, natürlich nicht. Dieses Weltbild findet sich in viele Varianten auseinandergeschwurbelt überall auf der Welt wieder. Der Wunsch nach Entlastung wächst überall mit den Konflikten der Individualisierung, die einen so schrecklich einsam und eigenverantwortlich macht. Daran sind die Juden schuld, seit sie aus einer Armee von entlastenden Götzen einen abstrakten Gott als gesetzeshütende Schuldinstitution gemacht haben.
Vor ein paar Jahren hat mir bei einem Essen ein honoriger deutscher Kulturwissenschaftler fortgeschrittenen Alters erklärt, die Shoah sei eine Katharsis gewesen. Also eine Art Reinigung. So haben die Nazis es ja eigentlich auch gemeint, dachte ich, aber der Professor meinte es natürlich genau andersherum, als Reinigung vom Antisemitismus. Ihm ist nicht aufgefallen, dass das gar keinen Unterschied für die eigentliche Tat macht, sondern nur für die Perspektive.
Und nun steht in großen kathartisch perspektivwechselnden Buchstaben ein Wort im Zentrum des ganzen Schlamassels: Chance!
Deutschland hat aus der Geschichte gelernt. War 1945 nicht auch eine Chance? Und die Documenta-Gründung 1955 ist doch der beste Beweis für die wahrgenommene Chance. Auch wenn da ein paar Nationalsozialisten mitgründen durften. Als Preis für die Chance sollte man in Zukunft nicht mehr vom süßen Entlastungsnektar des Antisemitismus trinken.
Wie ernst das genommen wurde, zeigt die Documenta fifteen gerade. Niemand wusste von nichts, weshalb sich jetzt alle verraten fühlen. Die Abmachung war, eine bessere Welt zu bekommen, die mit der eigenen so gar nichts zu tun hat, und das sieht man ja eigentlich auch auf diesem kulturpessimistischen Wimmelbild, das auf der Documenta gezeigt und das auch in Deutschland schon so oft gemalt wurde, um eine chancenlos apokalyptische Welt darzustellen.
Erschienen am 30. 06. 2022 in der jungle.world
Die Dämonisierung Israels und die Relativierung des Antisemitismus sind Teil eines hippen Distinktionsgebarens und der vermeintlichen »wokeness« der Kunst- und Kulturszene. Kritische Stimmen sind selten zu hören. Verena Dengler, Leon Kahane und Michaela Meise wenden sich gegen den Einfluss der BDS-Kampagne.